Was sind Graveyard-Channels überhaupt?
Der Begriff „Graveyard-Channels“ stammt aus den USA und bezeichnet Mittelwellenfrequenzen, auf denen viele kleine Sender mit geringer Leistung (meist 250–1000 Watt) denselben Kanal teilen. Tagsüber ist das kein Problem – die Reichweite ist begrenzt, und jeder Sender bedient nur seine Region. Doch nachts wird es spannend: Die Ionosphäre reflektiert Mittelwellen-Signale über weite Strecken (Skywave-Effekt), und plötzlich hört man nicht nur den Ortssender um die Ecke, sondern ein chaotisches Stimmengewirr aus halb Europa.
Das klingt wie ein Radiogeistertreffen – daher der Name „Graveyard“. Statt Grabsteinen gibt’s hier Frequenzmarker, und statt Stille ein wildes Durcheinander aus Musikfetzen, Nachrichten und Werbeslogans in allen Sprachen.
Warum sind sie so attraktiv für Broadcaster und DXer?
Für Broadcaster:
- Kostengünstig: Kleine Sendeleistung, keine teuren Hochleistungsanlagen.
- Lokale Reichweite am Tag: Ideal für Community-Radio, Museumsfunk oder Eventübertragungen.
- Nachtbonus: Wer Glück hat, wird nachts weit über die Region hinaus gehört – kostenloses „DX-Marketing“.
Für Shortwave- und MW-DXer:
- Vielfalt: Auf einer einzigen Frequenz können in einer Nacht 10–20 verschiedene Stationen auftauchen.
- Herausforderung: Das Identifizieren schwacher Stationen zwischen Störern ist wie Angeln im Nebel – und genau das macht süchtig.
- Seltene Fänge: Manche Sender tauchen nur unter bestimmten Ausbreitungsbedingungen auf – ein „One-Night-Stand“ im Äther.
Technische Herausforderungen
- Interferenz-Hölle
- Mehrere Sender auf derselben Frequenz = permanentes „Schieben und Ziehen“ im Signal.
- Selektive Fading-Effekte lassen Stimmen geisterhaft ein- und ausblenden.
- Empfangstechnik
- Breitbandige Ferrit- oder Rahmenantennen helfen, Störer auszublenden.
- DSP-Filter und schmale Bandbreiten sind Pflicht, wenn man IDs herauskitzeln will.
- Regulatorische Grenzen
- In Europa sind viele MW-Frequenzen inzwischen stillgelegt oder nur noch für Kleinsender zugelassen.
- Die „Graveyard“-Atmosphäre entsteht hier eher durch internationale Überschneidungen als durch nationale Senderdichte.
Typische „Graveyard“-Frequenzen in Deutschland & Europa
In Deutschland selbst sind die klassischen US-Graveyard-Kanäle (1230, 1240, 1340, 1400, 1450, 1490 kHz) nicht belegt – aber es gibt europäische Pendants, auf denen nachts reger Verkehr herrscht:
Frequenz (kHz) | Typische Sender / Besonderheiten | Bemerkung |
---|---|---|
801 | Ehem. BR-Frequenz, heute Museums- und Eventsender (Cham, Wertingen) | Nachts oft Spanien, UK, Rumänien |
828 | Früher NDR Info Spezial, heute oft Niederlande oder Italien | Starke Nacht-Interferenz |
999 | Spanien, UK, Saudi-Arabien | Klassiker für DXer |
1089 | TalkSport UK, plus Osteuropa | Sehr stark bei guter Ausbreitung |
1107 | AFN Kaiserslautern, plus Spanien und Italien | Militärfunk trifft Mittelmeer |
1143 | AFN Vilseck, plus Osteuropa | Überraschend weitreichend |
1485 | Lokalsender wie JOE in Erlangen, plus Mittelmeerraum | Kleinsender mit DX-Potenzial |
Randnotiz
Wer nachts auf einem Graveyard-Channel lauscht, erlebt oft folgendes: Man hört eine klare Station, freut sich schon auf die ID – und zack, mitten im Satz bricht sie ab, ersetzt durch eine völlig andere Sprache. Das ist wie ein Speed-Dating, bei dem man nie erfährt, wie der Name des Gegenübers war.
t Bodenwelle | |||
19:00–21:00 | 1107 | AFN Kaiserslautern (DEU), RNE5 (ESP), Italien | Militärfunk trifft südeuropäische Plauderei |
20:00–22:00 | 1485 | Lokalsender DE (Erlangen), Italien, Spanien | Kleinsender – ideal zum „ID-Puzzeln“ |
20:30–23:00 | 801 | SER España, BBC Scotland, Rumänien | Abends oft „Signal-Karussell“ |
21:00–00:00 | 1089 | TalkSport UK, Osteuropa | Starke UK-Dominanz, aber Fading bringt Überraschungen |
21:30–01:00 | 828 | Niederlande (regional), Italien | Gute Chance auf seltene Lokalprogramme |
22:00–02:00 | 1143 | AFN Vilseck, Spanien, Italien | AFN oft stabil, aber nachts von Süden „angefressen“ |
23:00–03:00 | 999 / 1107 / 1485 | „Graveyard-Mix“ | Jetzt wird’s chaotisch – perfektes Zeitfenster für Audio-Mitschnitte |
00:00–04:00 | 909, 1053, 1215 | BBC, Absolute Radio, Spanien | Britische Powerhouses, aber auch schwache Osteuropäer möglich |
Vor Sonnenaufgang (ca. 05:00–07:00) | 531, 603, 693 | Algerien, Spanien, UK | Morgendämmerung bringt oft Nordafrika ins Spiel |
Tipps für den Herbst-DX
- Antennenwahl: Ferritstab für schnelle Richtungsbestimmung, Rahmenantenne für gezieltes Ausblenden von Störern.
- Empfangsorte: Raus aus der Stadt! Feldwege, Deiche oder Waldlichtungen sind oft deutlich ruhiger im Rauschen.
- Aufnahmegerät: SDR mit breitem Mitschnitt (z. B. 1–2 MHz Bandbreite) – so kannst du später in Ruhe „durch die Nacht scrollen“.
- Logbuch: Gleich notieren – im Morgengrauen weiß man sonst nicht mehr, ob das nun „Radio Murcia“ oder „Radio Murica“ war.
Fazit
Graveyard-Channels sind das wilde Nachtleben der Mittelwelle – chaotisch, unberechenbar, aber voller Überraschungen. Für Broadcaster sind sie eine günstige Spielwiese, für DXer ein akustischer Abenteuerspielplatz. Wer sich darauf einlässt, sollte gute Ohren, Geduld und eine Portion Humor mitbringen – denn im Radiograveyard gilt: Die Geister, die ich rief, senden weiter…